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Harr/Parasiten im Tauschring

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Titel: Parasiten im Tauschring

Autor: Harald Friz (Berlin)

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Manch einer meint, Schmarotzer würden unsere Tauschringe zerstören, weil sie einseitig konsumieren, ohne im Tausch gleichwertiges zurückzugeben.

Aber warum scheinen zahlreiche Tauschringe mit einer Überschuldung gut leben zu können? Und warum scheinen scheinen sich so wenige Tauschringmitglieder für ausgegelichene Finanzen oder Restschulden ausgetretener Mitglieder zu interessieren? Ja, warum ignorieren fast alle Tauschringe ihre eigenen Tauschregeln, wenn es um das Wohl der Gemeinschaft geht?

Schenken und Schnorren

Zusammen mit Andreas Artmann untersuchte ich bereits 2010 im Artikel "Tauschen oder Schenken?" die Frage, ob wir tatsächlich tauschen oder nicht vielmehr eine Form der Schenkökonomie betreiben. Bei Gesprächen mit Tauschringmitgliedern stießen wir auf wenig Verständnis. Nur wenige konnten den Begriff des Schenkens in diesem Zusammenhang nachvollziehen. Wir waren auf der richtigen Spur, aber schenken scheint es irgendwie nicht zu sein.

Seit etwa 2011 beschäftige ich mich zunehmend mit dem Begriff der Gabe, wie er von Marcel Mauss in den 1920ern geprägt[1] und vor allem im französichsprachigen Raum diskutiert wurde.[2][3] In Gabenkulturen erwirbt man Ansehen nicht durch gieriges Aneignen und Anhäufen von Gütern, sondern durch großzügiges Geben.

Wer in einem Tauschring großzügig gibt und viel für andere tut, hat einen positiven Kontostand. Eigenartigerweise werden Mitglieder, die sich einseitig verausgabt haben, von einer lautstarken Fraktion abwertend als "reich" bezeichnet. Dabei ist das vermeintliche Guthaben an Tauschwährung nur ein zweifelhaftes Versprechen auf Gegenleistung, das die anderen Mitglieder eines Tages einlösen werden - oder auch nicht.

Nach meinem Verständnis ist derjenige "reich", der sich vom Leistenden hat versorgen lassen. Das Konto ist im Minus, aber die Speisekammer ist voll.

Im August 2012 entdeckte[4] ich ein Buch von Michel Serres mit dem provokativen Titel Der Parasit.[5] Es argumentiert genau umgekehrt wie die Tausch- und Gabentheorien. Nach Serres zeichnen sich parasitäre Beziehungen ausdrücklich durch Einseitigkeit aus, im Gegensatz zur unmittelbaren Gegenseitigkeit von Tausch und Kauf oder der längerfristigen Gegenseitigkeit der Gabe. Außerdem seien parasitäre Beziehungen so normal, so verbreitet, so üblich, dass es erstaune, wie selten sie ins Zentrum philosophischer, soziologischer oder wirtschaftlicher Betrachtungen gestellt würden.

In Tauschringen müsste also der Blick auf die Mitglieder gelenkt werden, die dauerhaft im Minus sind, und sich damit wohl fühlen.

These

In diesem Artikel stelle ich die These auf, dass heutige Tauschringe als ein System einseitiger, parasitärer Beziehungen zwischen den Mitgliedern beschrieben werden können.

So verstanden wären Schmarotzer nicht die Lücke im System. Die Schmarotzer wären vielmehr dessen treibende Kraft. Sie halten durch ihre unersättliche Gier das Parasit-Wirt-System in Bewegung.

Ich vermute, dass diese Sichtweise einige weit verbreitete Phänomen in Tauschringen erklärt. Und ich vermute, dass sich daraus ein einfaches Regelwerk ableiten lässt, dass viele Reibungsverluste und zwischenmenschliche Konflikte in den heute üblichen Tauschsystemen verschwinden ließe.

Lokale Parasitäre Systeme

Bei den "Local Exchange und Trading Systems" (LETS), auf die sich die meisten heutigen Tauschringe berufen, geht es um gegenseitigen Austausch (exchange) und Handel (trade). Beide geben etwas. Bei nehmen etwas. Das Ausgetauschte ist etwa gleichwertig.

Ein "Lokales Parasitäres System" ("LPS") würde sich dagegen auf die Vermittlung und Dokumentation einseitiger Leistungstransfers beschränken. Der eine gibt, der andere nimmt.

Einseitigkeit statt Gegenseitigkeit

Der Parasit konsumiert. Er nimmt keinen Kredit auf, den er zurückzahlen würde. Er gibt nichts im Tausch zurück. Ja, er bezahlt nicht einmal für die erhaltene Leistung. Der Wirt gibt, der Parasit nimmt.

  • Es gibt also keinen Tausch! Deswegen spreche ich hier von Leistungstransfer, nicht von Tausch. (Wie die Begriffe Gabe und Schenkökonomie hinein spielen, ist noch zu klären.)
  • Es gibt kein Geld! Ein Parasit bezahlt nicht. Er nimmt. Wenn das, was er dem Wirt "überweist", einen Wert hätte, würde er damit ja etwas zurückgeben. Dann würde er im Prinzip der Gegenseitigkeit Leistung gegen Geld tauschen.

Wenn ein LPS ein Buchungssystem hat, würde es nur den Empfang von Leistungen quittieren. Der Wirt hat nichts von der Buchung. Sie stellt weder Guthaben noch Anspruch auf Gegenleistung dar. Sie ist nur eine Empfangsbestätigung des Parasiten. Es handelt sich also um keine Komplementärwärhung, womit auch alle geldtheoretischen Überlegungen (wie etwa Umlaufsicherung oder Bürgergeld) hinfällig werden.

Warum sollte der Wirt mitmachen?

  • Viele Tauschringmitglieder häufen bereits heute ein großes "Plus" auf ihren Konten an, obwohl kaum abzusehen ist, was sie dafür kaufen können werden.
  • Erfolgreiche Parasiten wissen, wie sie ihre Wirte finden und melken. :-)

Rollenwechsel statt Gegenseitigkeit

Parasit und Wirt sind keine festgeschriebenen Rollen. Jede Person ist mal Wirt, mal Parasit. Manche Personen werden überwiegend als Wirt handeln (heute: langfristige Pluskonten), andere überwiegend als Parasit (heute: langfristige Minuskonten und Austritt im Minus). Aber manche werden genau so zwischen den Rollen wechseln, wie es Michel Serres beschriebt.

Parasit und Wirt sind hier also ausdrücklich nicht als moralische Wertung gemeint! Das Neue an dem Ansatz hier ist, dass beides als völlig natürliche Verhaltensweisen betrachtet werden. Die Ausnahme ist vielmehr der "Tausch"-Gedanke, wie er in der deutschen Bezeichnung "Tauschring" anklingt, das Prinzip des Ausgleichs von Geben und Nehmen, wie es in den Tauschregeln fast aller Tauschringe festgeschrieben ist.

Keine Mitgliedsbeiträge

Da es kein Geld gibt, weil die Tauschwährung keinen Wert hat, wäre es sinnlos, irgendeine Form von Mitgliedsbeitrag abzubuchen. Buchungen sind nur Empfangsbestätigungen für empfangenen Leistung. Welche Leistung würde eine monatliche Abbuchung von einer Viertelstunde oder 5 Talenten quittieren? Welche Leistung würde eine 10% Umsatzgebühr quittieren?

Empfangsbestätigung für Aufgaben im Dienste der Gemeinschaft

Viele Wirte lassen sich motivieren für andere zu arbeiten, wenn ihre Leistungen im Namen der Gemeinschaft angenommen werden. Wenn also jemand drei Stunden Flugblätter für den LPS verteilt, sollte er dafür auch eine entsprechende Empfangsbestätigung erhalten.

Wird das Verwaltungskonto nicht überzogen?

  • Bereits heute überziehen viele Tauschringe ihre Verwaltungskonten, um Büroarbeit und andere Tätigkeiten für die Gemeinschaft zu bezahlen. Das wird aber nur zum Problem, wenn man die Buchung als Bezahlung versteht, die einen Anspruch auf Gegenleistung begründet.
  • Organisatorisch wäre es auch für konventionelle Tauschringe sinnvoll, wenn sie einen Treuhänder ernennen. Der Treuhänder unterschreibt die Empfangsbestätigungen im Namen der Gemeinschaft. Er bestimmt, welche Leistungen tatsächlich im Sinne der Gemeinschaft sind, welcher Aufwand dafür angemessen wäre und ob die genannte Leistung tatsächlich auch erbracht wurde.

Reputation statt Limits

Der Motor des Lokalen Transfersystems sind die Schnorrer, Schmarotzer und Parasiten. Solange sie einen Wirt finden, der ihnen gibt, was sie wollen, ist alles gut. :-) Warum sollte eine Bürokratie mittels Limits in individuelle Parasit-Wirt-Beziehungen eingreifen?

Manche Wirte geben jedem Parasiten, der nur beharrlich genug fordert. Andere Wirte reagieren auf andere Reize. Insofern kann es für langfristig denkende Parasiten sehr klug sein, sich eine Reputation aufzubauen, die Wirte langfristig an sie bindet. Manche Parasiten werden also in kürzester Zeit abgreifen, was sie können, und dann verschwinden. Andere Parasiten werden in ein komplexeres Wechselspiel aus Geben und Nehmen einsteigen, das einem klassischen Tausch entspricht.

Für die Gemeinschaft ist es deswegen ganz sinnvoll, für Transparenz bestimmter Aktiviäten und Kennzahlen zu sorgen, damit sich die Teilnehmer finden können die an langfristigen Beziehungen interessiert sind.

Dauer von Dienstleistungen wird bestätigt, nicht der Wert von Waren

Da es kein Geld gibt, könnne auch keine Waren verkauft werden. Die Buchung von Empfangsbestätigungen für Waren in einem zeitbasierten System wäre nur mit dem Wert Null sinnvoll. Wer Waren tauschen oder verkaufen will, sollte sie gegen andere Waren oder gegen Geld oder gegen Dienstleistungen tauschen. Aber solche Geschäfte würden nicht im LPS verbucht. Bzw. es gäbe ein separates Dokummentationssystem, das dem Aufbau der Reputation als großzügiger Schenker oder ehrlicher Käufer dient.

Wer profitiert?

Ein LPS ist eigentlich nichts anderes als das, was die meisten Tauschringe ohnehin schon machen und was die meisten Mitglieder auch wollen - nur ohne Stress und ohne schlechtes Gewissen. Es gibt den Teilnehmern, was sie wollen:

  • Freiheit von Limits. Jeder kann so viel konsumieren oder leisten, wie er mag
  • Keine Beiträge
  • Sichtbarmachen und Anerkennung aller Tätigkeit für die Gemeinschaft

Wer wird damit nicht glücklich?

Paradoxerweise erwarte ich, dass auch die echten Schmarotzer mit diesem System unglücklich sind. Sie können keine dunkle Lücken im System mehr ausnützen, da sie ganz offen im Scheinwerferlicht stehen. Bisher musst die Orga den Schmarotzern hinterherlaufen, um deren Schulden einzutreiben. Beim LPS dürfte dagegen ein Wettkampf der Schnorrer um den besten Platz in der Futterkette entbrennen - möglichst nah bei den Wirten. Da dieser Wettkampf erklärtermaßen zum System gehört, müsste ein Selbstregulierungsmechanismus einsetzen, der langfristig orientiertes kooperatives Verhalten fördert.

Auch in den heutigen Tauschringen wird genau genommen nicht getauscht. Die Transaktion, die gemeinhin als ein Tausch bezeichnet wird, ist einseitig. Einer erbringt eine Leistung (der Wirt), ein anderer verzehrt (der Parasit/Gast/Verbraucher). Ob sich der Kreis jemals schließt, ob der Leistungsnehmer jemals sein Leistungsversprechen gegenüber der Gemeinschaft erfüllt, ist auch bei den heutigen "Tausch"-Systemen mehr als fraglich.

Fazit

Parasitäre Beziehungen sind die normalsten Sache der Welt.

Anmerkungen

  1. Marcel Mauss: Die Gabe. 1990, Suhrkamp Taschenbuch
  2. Alain Caille: Anthropologie der Gabe. 2008, Campus
  3. Christian Stegbauer: Reziprozität - Einführung in soziale Formen der Gegenseitigkeit. 2011, VS Verlag
  4. http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/georg-diez-ueber-paul-ryan-ayn-rand-und-hayek-im-us-wahlkampf-a-851840.html
  5. Michel Serres: Der Parasit. 1987, Suhrkamp Taschenbuch