Harr/Schöneberger Tauschringmodell
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Titel: Das Schöneberger Tauschringmodell: neue Tauschregeln für alte Tauschringe Autor: Harald Friz (Berlin) Kommentare, Korrekturen und Ergänzungsvorschläge bitte nur auf der Diskussionsseite. Version 2013-11-25-A ENTWURF - WEITERVERÖFFENTLICHUNG BITTE ERST NACH FREIGABE DURCH AUTOR |
Auf den ersten Blick sind Tauschringe eine großartige Idee! Menschen tun sich zusammen, um ohne Bargeld Waren und Dienstleistungen zu tauschen.
Ein Tauschring ist offen für alle. Auch wer keinen Pfennig mehr in der Tasche hat, kann mitmachen. Im Alltag Ausgegrenzte und Vereinzelte finden Anschluss an eine solidarische Gemeinschaft, wo ein sozialeres Verhältnis zu Arbeit und Entlohnung praktiziert wird. Oft wird sogar die Lebenszeit aller Mitglieder gleich bewertet, unabhängig von Qualifikation und Leistungsfähigkeit.
Auf den zweiten Blick haben fast alle Tauschringe große Probleme. Nur die wenigsten Mitglieder "tauschen" in dem Sinne, dass sie genauso viel geben wie nehmen.
Buchhalterisch lassen sich die Probleme an den Kontoständen ablesen. In einem idealen Tauschring würden sich alle Kontostände immer etwa um Null herum bewegen. Ich backe dir heute einen Kuchen, du putzt morgen Bernd die Fenster, Bernd repariert Sabine übermorgen das Fahrrad, Sabine bringt mir einen Tag später einen selbstgebackenen Kuchen vorbei. Alle Beteiligten haben etwas erhalten. Alle Beteiligten haben im Tausch etwas Gleichwertiges gegeben.
In den meisten real existierenden Tauschringen sieht es anders aus. Die einen Mitglieder arbeiten gerne und häufen lieber "Guthaben" an, als anderen Mitgliedern Aufträge zu geben. Die anderen lassen gerne für sich arbeiten und leben mit wachsenden "Schulden", die sie mangels Aufträgen nie mehr abarbeiten können oder mangels sozialen Gewissens nie mehr abarbeiten wollen. Für den fehlenden Ausgleich fühlt sich niemand zuständig.
Tauschregeln
Ich meine, dass die Ursache vieler Probleme in den Regeln zu suchen ist, nach denen sich die meisten deutschen Tauschringe organisieren.
Zeittauschringe
Niemand scheint genau zu wissen, woher diese Tauschregeln eigentlich stammen. Manche beziehen sich auf das von Michael Linton in den 1980ern entwickelte Modell des "Local Exchange and Trading System" (LETS), manche berufen sich auf freiwirtschaftliches Gedankengut. Diese Modelle definieren Komplementärwährungen, die an das gesetzliche Zahlungsmittel gebunden sind.
In Deutschland haben sich Zeittauschringe durchgesetzt. Meines Wissens gibt es bisher keine gemeinsame theoretische Grundlage für dieses Modell, auch wenn es Gemeinsamkeiten mit dem ebenfalls in den 1980ern von Edgar S. Cahn entwickelten Modell des Time Dollars und mit anarchistisch-sozialistischen Arbeitsgeldmodellen aus dem 19. Jahrhundert gibt.
Die heutigen Zeittauschringe sind vielmehr durch wenig reflektiertes gegenseitiges Abschreiben der Tauschregeln gewachsen. Deswegen ähneln sich die meisten deutschen Tauschringe meines Erachtens in ihren Grundregeln - und in ihren Problemen.
Aus Erfahrungen lernen
Ich möchte eine kritische Auseinandersetzung mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner heutiger Tauschringe anregen. Seit der großen Gründungswelle in den 1990ern sind fast zwanzig Jahre vergangen. Die Tauschringszene kann auf einen großen Erfahrungsschatz zurückblicken. Ich meine, dass es an der Zeit ist, aus den Erfahrungen zu lernen.
Im Folgenden möchte ich anhand des "Schöneberger Tauschringmodells" typische Probleme ansprechen und eine mögliche Alternative anbieten. Dieser Diskussionsbeitrag soll helfen, ein Standardmodell für Nachbarschaftstauschringe zu entwickeln, das leicht zu verstehen und umzusetzen ist.
Keine Mitgliedsbeiträge
Für die Organisationsteams (Orga) von Tauschringen sind monatliche Mitgliedsbeiträge verführerisch einfach einzusammeln. Kaum ein Tauschring verzichtet freiwillig auf diese Einkommensquelle. Die Gemeinschaftskasse füllt sich jeden Monat ohne weiteres Zutun. Mitgliedsbeiträge in Euro finde ich sinnvoll. Ich kritisiere Mitgliedsbeiträge in Tauschwährung.
Ich halte die erzwungene regelmäßiger Abbuchung fester Mitgliedsbeiträge in Tauschwährung für den größten Konstruktionsfehler heutiger Tauschringe.
Luftbuchungen
Sehr häufig läuft eine Mitgliedschaft in einem Tauschring so ab: Jemand tritt ein, tauscht aber nicht. Vom Mitgliedskonto wird jeden Monat ein bestimmter Betrag abgebucht. Das Mitglied tut nichts. Irgendwann ergreift jemand von der Orga die Initiative und fragt nach. Das Mitglied antwortet: "ich habe nie getauscht, möchte auch in Zukunft nicht tauschen. Kann ich nicht einfach wieder austreten?" Korrekterweise müsste die Orga antworten: "Nein, erst musst du deine Schulden abarbeiten."
Aber wie soll das praktisch ablaufen? Was soll die Orga machen? Mit Zwangsmaßnahmen drohen? Das geben Satzung und Gesetzgebung nicht her. Die Moralkeule schwingen? Das geht, beeindruckt aber niemanden, der sagt: "ich hatte ganz vergessen, dass ich noch Mitglied beim Tauschring bin; aber ich habe ihn ja auch nie genutzt". In der Praxis werden bei solchen Mitgliedern die eingesammelten Mitgliedsbeiträge vom Systemkonto wieder zurückgebucht und das Konto geschlossen.
Die Kontobewegungen und die Verwaltungsarbeit täuschen darüber hinweg, was das Mitglied mit dem "Mitgliedsbeitrag" tatsächlich zum Nutzen des Tauschrings "beigetragen" hat - nichts.
Gelegenheitstauscher
Viele Mitglieder tauschen nur gelegentlich. Wer im Jahr 2 Stunden Fenster putzt, dafür aber 3 Stunden als "Mitgliedsbeitrag" abgeben soll, fragt sich irgendwann, was das soll. Diese Gelegenheitstauscher sind von den Beiträgen besonders frustriert. Sie können für ihre Leistungen nichts eintauschen, weil die Mitgliedsbeiträge alle Ansprüche auf Gegenleistungen auffressen.
Feste monatliche Abbuchungen vertreiben meiner Erfahrung nach genau die Mitglieder, für die Nachbarschaftshilfe-Tauschringe gedacht sind. Sie wollen ab und zu mal mit ihren Nachbarn kleine Gefälligkeiten tauschen. Sie haben etwas anzubieten, was andere brauchen. Sie sind aktiv. Aber sie wollen für ihre konkrete Arbeitsleistung auch eine konkrete Gegenleistung erhalten. Wenn die Mitgliedsbeiträge unverhältnismäßig teuer sind, lohnt sich das Tauschen nicht. Die Mitglieder treten aus.
Engagierte Tauscher
Nur bei besonders leistungsbereiten Mitgliedern fallen die Mitgliedsbeiträge nicht ins Gewicht. Sie haben große Tauschumsätze und oft auch ein hohes Plus auf dem Konto, weil sie aus eigenem Antrieb viel für Andere tun. Aber wer durch seine Aktivitäten schon viel zum Tauschring beiträgt, will nicht auch noch Mitgliedsbeiträge abgebucht bekommen.
Letztlich sind Mitgliedsbeiträge nur für die Empfänger interessant. Aus diesem Grund wurden sie bei den meisten Tauschringen auch eingeführt. Die Tauschringverwaltung wollte bezahlt werden und hat deswegen die einfachste Form der Umverteilung gewählt: die monatliche Abbuchung von festen Beträgen.
Keine Tauschgeschäfte zu Lasten von Gemeinschaftskonten
Aber wie soll ein Tauschring die Orga bezahlen, wenn er keine Mitgliedsbeiträge mehr einnimmt? Ich meine, dass überhaupt nichts zu Lasten von Gemeinschaftskonten vergütet werden sollte.
Tauschringe machen viel Arbeit
Die Erfahrung zeigt, dass ein Tauschring sehr viel mehr Arbeit macht, als durch Mitgliedsbeiträge, Spenden und andere Einkommensquellen je vollständig vergütet werden könnnte. Jemand muss immer zurückstecken. Aber wer?
Der Kampf um die Verteilung des begrenzten Budgets führt zu Spannungen innerhalb der Vorstände und zwischen allen Mitgliedern, die sich für den Tauschring engagieren: "Warum kriegt der was für seine Arbeit und ich nicht?"
Die Aussicht auf Entlohnung scheint außerdem unqualifizierte und unbeliebte Mitglieder anzuziehen. Sie brauchen dringend einen bezahlten Auftrag, etwa um die abgebuchten Mitgliedsbeiträge abzuarbeiten. Von anderen Tauschringmitgliedern erhalten sie aber keinen. Wenn solche Mitglieder die Verwaltungsarbeit - und damit meist auch die Leitung - des Tauschrings übernehmen, führt das zu einer Zentralisierung und Erstarrung von Tauschringen. Sie brauchen das Einkommen aus der Gemeinschaftskasse. Diese muss über einen Umverteilungsmechanismus von den Mitgliedern gefüllt werden. Die Bezahlung der Verwaltung wird zum Selbstzweck.
Freiwilliger Tausch statt Zwangsabgabe
Wenn man den Zweck der Tauschringe in der ökonomischen Selbsthilfe sieht, sollten die freiwilligen Tauschgeschäfte der Mitglieder untereinander wichtiger sein als das Eintreiben einer Zwangsabgabe für eine ineffektive Bürokratie.
Jeder einzelne Buchungsvorgang auf den Konten der Mitglieder sollte einem von beiden Seiten freiwillig vereinbarten und im Einverständnis abgerechneten Tauschgeschäft entsprechen. Aber wer ist eigentlich der Tauschpartner bei einer Buchung vom Gemeinschaftskonto? Wer entscheidet, ob eine bestimmte Verwaltungstätigket überhaupt von der Gemeinschaft gewünscht wurde und wie sie bewertet werden soll? In der Praxis fehlt meist die Kontrolle. Verwaltungskräfte rechnen Tätigkeiten über Gemeinschaftskonten ab, die von den restlichen Mitglieder überhaupt nicht gewünscht werden oder nur zu einem sehr viel geringeren Preis.
Ehrenamtliche dagegen müssen sich nicht für die Abrechnung von Tätigkeiten rechtfertigen, die keiner wollte. Wenn jemand Freude daran hat, jede Woche eine zehnseitige Zeitung zu produzieren, die kein Mensch liest, stört das niemanden, solange sie keiner abkaufen muss. Genauso kann es den einzelnen Mitgliedern egal sein, wenn jemand für einfachste Verwaltungstätigkeiten Stunden braucht, weil er auf Hilfe oder Anleitung verzichtet.
Wer für seine Tätigkeit eine Bezahlung möchte, kann sie weiterhin als freiwilligen Tausch zwischen Mitgliedern verrechnen. Vielleicht ist ja manchen Mitgliedern diese Zeitung eine entsprechende Bezahlung wert!
Gemeinschaftssinn
Aber was ist, wenn keiner bereit ist, ohne Bezahlung die Verantwortung für den Tauschring zu übernehmen? Dann stellt sich die Frage nach dem Sinn der Gemeinschaft.
Wer Tauschringe als Wohlfahrts- oder Sozialeinrichtungen begreift, wird nach staatlicher Förderung rufen. Mir persönlich sind keine Tauschringe bekannt, die durch staatliche Förderung gerettet wurden. Aber mir sind einige Beispiele von Tauschringen bekannt, die mithilfe staatlicher Förderung gegründet wurden und nach Ablauf der Förderung wieder eingegangen sind.
Wer Tauschringe als eigenverantwortliche Selbsthilfe (im bürgerlich-liberalen Sinne) oder als basisdemokratische Graswurzelbewegung (im links-alternativen Sinne) begreift, wird an den Gemeinschaftssinn appellieren. Tauschringe haben meines Erachtens im Kern genau die gleichen Probleme und Lösungsmöglichkeiten, wie jeder andere Verein auch.
Eigenes Geld machen?
Zwischen Tauschringen und bürgerschaftlichem Engagement gibt es aber einen wesentlichen Unterschied. Tauschringe können Verwaltungsarbeiten mit "selbstgemachtem Geld" bezahlen.
Praktisch geht das ganz einfach. Um alle Gemeinschaftstätigkeiten aus der Gemeinschaftskasse zu bezahlen, müssten einfach nur die Gemeinschaftskonten beliebig überzogen werden. Das kommt in der Praxis häufig vor und wird theoretisch unter den Stichworten "Bürgergeld" und "Überschuldung des Verwaltungskontos" kontrovers diskutiert.
Es gibt gute Gründe, Gemeinschaftskonten beliebig weit ins Minus wandern zu lassen. Nur hat das Ergebnis nichts mehr mit Tausch zu tun. Siehe auch meine Artikel:
- "Tauschen oder Schenken? Lebendige Schenkkultur in deutschen Tauschringen"
- "Anmerkungen zur Tauschring-Definition des Vereins zur Förderung von bürgerschaftlichem Engagement e.V. (VzFbE)"
- "Der Soziale Tauschring - Ein Modell für die erweiterte Nachbarschaftshilfe"
- "Die Zeitgeber"
Das "Schöneberger Tauschringmodell" soll das Tauschversprechen erhalten und den Ausgleich von Geben und Nehmen fördern. Ich meine, dass es sinnvoll ist, nur die Tauschgeschäfte der Mitglieder untereinander als "Tausch" abzurechnen.
Beitragen statt tauschen
Anstatt alle Gemeinschaftsaufgaben zu bezahlen, wird beim "Schöneberger Tauschringmodell" niemand bezahlt. Da Bezahlung als Engpass wegfällt, können sich alle einbringen, wie sie möchten. Da Bezahlung als Motivation wegfällt, werden sich nur die Menschen beteiligen, die sich aus persönlichem Interesse engagieren. Manche freuen sich über die Gelegenheit, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Manche freuen sich über die gute Gelegenheit, etwas für die Gemeinschaft zu tun, was sie ohnehin gerne tun.
Dieses Modell des Beitragens ("Peer Economy") dürfte jeder aus eigener Erfahrung kennen. Jemand lädt zum Buffet oder Picknick ein, und jeder Gast bringt etwas zu Essen mit.
Zahllose Vereine funktionieren sehr gut mit rein ehrenamtlicher Arbeit. Welcher Sportverein bezahlt schon seinen Vorstand oder Schatzmeister? Warum sollte das bei einem Tauschring anders sein?
Außenkonten
Die Abrechnung von tauschringübergreifenden "Außentausch"-Geschäften über Außenkonten lässt sich mit dem Schöneberger Tauschringmodell nicht vereinbaren. Entgegen allgemein verbreiteten Wunschdenkens ist es nicht möglich, "Stunden" von einem Tauschring zu einem anderen zu überweisen. Außenkonten sind Gemeinschaftskonten. Außentausch in diesem Sinne widerspricht auch dem ausdrücklichen Ziel des Schöneberger Tauschringmodells, lokale Tausch-Gemeinschaften zu bilden.
Wirtschaftliche Beziehungen zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Tauschringe sind auch ohne komplizierte Verrechnungssysteme möglich. Waren und Dienste lassen sich mit Euro bezahlen oder im Naturaltausch direkt gegen andere Waren oder Dienst tauschen.
Ich wundere mich über die materialistische Denkweise mancher Tauschringaktiver, die einerseits "ohne Geld tauschen" wollen, andererseits Dank nur mittels einer Überweisung ausdrücken können.
Sinnvoller als wirren "Außentausch" finde ich eine ehrliche Bezahlung mit "echtem" Geld, ein klug gewähltes Gastgeschenk oder ein aufrichtiges Dankeschön.
Projektkonten
Buchhalterisch wäre es für manche Gemeinschaftsaktivitäten durchaus praktisch, wenn man sie über gemeinsame Konten abrechnet. Über eine Kaffeekasse lassen sich etwa die Erlöse aus Kuchen- und Kaffeeverkauf an die Bäcker und Servicekräfte verteilen.
Viele Tauschringen nutzen für diese Verrechnung ihr Verwaltungskonto. Das hat den Nachteil, dass schwer nachzuvollziehen ist, wer jetzt eigentlich für den Kuchen bezahlt hat. Der Tauschring aus der Gemeinschaftskasse? Oder die Kuchenesser, die die Gemeinschaftskasse nur zur Verrechnung benutzt haben?
Eine Lösung wären projektbezogene Durchlaufkonten, wo für jedes Projekt erst die Einnahmen gesammelt und dann wieder verteilt werden. So ein Konto wird mit Null eröffnet, sammelt ein Guthaben an und ist bei Projektende wieder Null. So lässt sich ganz einfach nachvollziehen, wo noch etwas offen ist.
Solche Projektkonten sind für alle Aufgaben geeignet, wo etwas zwischen mehreren Mitgliedern verrechnet werden muss. Entscheidend sind dabei mehrere Punkte:
- Der Kontostand ist immer Null oder positiv. Die Projektkonten sind keine Kredite, sondern Verrechnungshilfen. Sie haben ein hartes Limit.
- Projekte sind zeitlich begrenzt und werden zeitnah verrechnet. Wenn das Projekt abgerechnet ist, ist das Konto wieder Null. Auf Projektkonten sollten sich keine Rücklagen ansammeln.
- Projekte betreffen immer nur eine begrenzte Anzahl von Mitgliedern. Nur wer auf das Projektkonto eingezahlt hat, darf über die Verwendung der Mittel mitbestimmen. Unbeteiligte sollten nicht reinreden. Jeder hat die freie Wahl, bei welchen Projekten er sich in welcher Höhe beteiligt.
Über solche projektbezogenen Durchlaufkonten lässt sich vieles vergüten, was sonst über das Verwaltungskonto vergütet würde. Zehn Mitglieder wollen jeden Monat einen Brief mit aktuellen Informationen zugeschickt bekommen? Kein Problem. Sie suchen sich jemanden, der diesen Brief schreibt, druckt und versendet und bezahlen ihn dafür. Ob in Tauschwährung und/oder in Euro ist dabei egal.
Über ein solches Projektkonto lassen sich beispielsweise auch kurzfristig gültige Gutscheine, Bons oder Marken abrechnen. Zu Beginn einer Veranstaltung händigt eine Kasse den teilnehmenden Mitgliedern Bons in "Tauschwährung" gegen Unterschrift aus. Während der Veranstaltung werden diese Bons ganz unbürokratisch wie ein Zahlungsmittel verwendet. Am Ende der Veranstaltung können die Bons zurückgegeben werden. Nicht rechtzeitig zurückgegebene Bons verfallen. Nach der Veranstaltung wird für jedes teilnehmende Mitglied auf Papier ausgerechnet, wie viele Bons es zu bezahlen hat bzw. für wie viele Bons es eine Gutschrift erhält. In der zentralen Buchführung wird über das Projektkonto "Bons" nur das jeweilige Saldo bei der Veranstaltung erfasst. Um das Projektkonto auszugleichen, wird der Überschuss auf's Systemkonto überwiesen.
Es gibt also durchaus Möglichkeiten, gemeinschaftliche Aufgaben zu verrechnen oder Bons auszugeben, ohne Schulden zu Lasten der Gemeinschaft einzugehen.
Trittbrettfahrer
In den Tauschregeln so gut wie aller Tauschringe steht der Satz, dass ein Mitglied nur mit ausgeglichenem Konto austreten kann. In der Praxis treten viele Mitglieder aber auch mit Schulden auf ihrem Konto aus, ohne dass die Tauschringe etwas dagegen unternehmen können. Dieses sogenannte "Trittbrettfahrer"-Problem ist die größte Schwachstelle des Systems "Tauschring". Manche Mitglieder können das Tauschversprechen nicht einhalten, manche wollen es nicht.
Da im "Schöneberger Tauschringmodell" keine Mitgliedsbeiträge oder andere Zwangsabbuchungen anfallen, können Tauschringmitglieder ausschließlich durch freiwilligen Konsum ins Minus geraten.
Wer zu Lasten der Gemeinschaft konsumiert, muss selbst für den Ausgleich sorgen. Wenn sich ein Schmarotzer dem Tauschversprechen vorsätzlich entziehen will, sollte die Tauschring-Gemeinschaft meines Erachtens auf Schuldenkollektivierung verzichten. Im Gegensatz zur weit verbreiteten Praxis werden die Restschulden von ehemaligen Mitgliedern also nicht zu Lasten eines Gemeinschaftskontos ausgeglichen. Das Minus bleibt auf dem jeweiligen Mitgliedskonto so lange stehen, bis sich das Mitglied um einen Ausgleich kümmert.
Einerseits erleichtert das die soziale Ächtung von Schmarotzern. Zum Beispiel kann der Tauschring die Restschulden öffentlich bekannt geben, die durch einseitigen Konsum ohne Bereitschaft zur Gegenleistung entstanden sind.
Andererseits motiviert es die Gemeinschaft, Mitgliedern zu helfen, die unverschuldet in eine Notlage geraten sind. Für anonym angehäufte Schuldenberge fühlt sich kaum jemand zuständig. Das nachvollziehbare Schicksal persönlich bekannter Menschen weckt Mitgefühl.
Einseitigkeiten abfedern
Die meisten Tauschringmitglieder dürften zustimmen, dass Tauschringe eine wichtige soziale Funktion haben. Das wird auch in wissenschaftlichen Analysen und in der überregionalen Arbeit immer wieder deutlich.
Nur bei der konkreten Umsetzung tun sich viele schwer. Manche Tauschringe haben Sozialkonten eingerichtet, finden aber keine geeigneten Vergabekriterien. Der soziale Ausgleich findet dann eher indirekt statt, spätestens beim Austritt. Die einen hinterlassen großzügige Spenden, die anderen offene Forderungen.
Nachhaltige Existenzsicherung der Gemeinschaft
Ich meine, dass die wesentliche soziale Funktion eines Tauschrings in seiner Existenz liegt.
Ein Tauschring ergänzt andere Wirtschaftssysteme um ein wertvolles Angebot. Das Ziel sollte also ein Mechanismus sein, der die nachhaltige Existenzsicherung eines Tauschrings fördert. Wesentlich ist dafür der langfristige Ausgleich von Geben und Nehmen, der sich zahlenmäßig in Kontoständen um Null herum zeigt.
Die Erfahrung zeigt, dass sehr aktive Tauscher von sich aus für ausgeglichene Konten sorgen. Sie sind im Tauschring, weil sie tatsächlich tauschen wollen. Sie arbeiten gerne für andere, fordern dafür aber auch Gegenleistungen ein. Genauso sind die Konten von Wenigtauschern ausgeglichen. Wer nie leistet oder Leistungen nutzt, bleibt auch bei Null. (Es sei denn, es werden monatliche Mitgliedsbeiträge abgebucht.)
Automatischer Sozialausgleich
Problematisch sind die Mitglieder, die überwiegend geben oder überwiegend nehmen. Sie schaffen von sich aus keinen Ausgleich.
Das "Schöneberger Tauschringmodell" setzt hier auf einen automatischen Sozialausgleich durch monatliche Negativzinsen auf Plus- und Minuskonten in Höhe von 3%. Dieser Mechanismus mag manche vielleicht an die Umlaufsicherung nach der Freiwirtschaftslehre erinnern. Aber hier sollen keine Guthaben entwertet werden, um "Geld" in Umlauf zu halten. Die Tauschwährung eines Tauschrings ist kein "Geld" in diesem Sinne. Es geht hier um einen Ausgleich von Geben und Nehmen bei Mitgliedern, die ihn nicht aus eigener Kraft schaffen können oder wollen.
Der Sozialausgleich wird immer zum Monatsersten auf den Kontostand des Vortages berechnet. Von jedem Pluskonto werden 3% zu Gunsten des Systemkontos abgezogen. Jedem Minuskonto werden 3% zu Lasten des Systemkontos gutgeschrieben. (Die optimale Höhe des Zinssatzes muss die Praxis zeigen, vermutlich irgendwo zwischen 1% und 5% im Monat.)
Wer sich aktiv um den Ausgleich seines Kontos kümmert, ist vom so erzwungenen Sozialausgleich nicht betroffen, egal wie hoch der Umsatz auch sein mag. 3% von Kontostand Null sind Null. Mitglieder, die überwiegend leisten, tragen zum Wohlergehen der Gemeinschaft bei, auch ohne Arbeitsaufträge vergeben zu müssen. Mitglieder, die überwiegend in Anspruch nehmen, werden von ihren Verbindlichkeiten entlastet.
Wenn in im heute üblichen Tauschring ein Jahr lang nichts getauscht wird, rutschen bisherige Schuldner tiefer ins Minus und kommen zusätzliche Schuldner hinzu. Beim Schöneberger Tauschringmodell würde sich dagegen die Schulden abbauen. Der Tauschring reguliert sich selbst.
Transparenz
In den Mitglieder- und Kontostandslisten wird neben dem Tauschumsatz für alle Mitglieder aufgeführt, wie viel sie zum Sozialausgleich beigetragen bzw. wie viel sie davon in Anspruch genommen haben. So erfahren die Vielarbeiter Anerkennung, die durch ihren Verzicht auf Gegenleistung den Sozialausgleich überhaupt erst ermöglichen.
Die einzelnen Mitglieder können durch ihr Tauschverhalten selbst bestimmen, in welchem Umfang sie sich am Sozialausgleich beteiligen möchten.
Systemkonto
Das Systemkonto wird ausschließlich für den automatischen Sozialausgleich verwendet. Tauschgeschäfte zu Lasten des Systemkontos sind unzulässig.
Der automatische Ausgleich führt nicht nur dazu, dass sich im Laufe der Zeit nicht nur alle Mitgliederkonten, sondern auch das Systemkonto dem Kontostand Null annähert.
Beispiel: ein Tauschring hat zwei Mitglieder, Bernd und Sabine. Bernd hat -100 VE Schulden, Sabina hat +300 VE Guthaben. Das Systemkonto berechnet sich aus der Summe aller Mitgliederkonten -(-100 VE + 300 VE) = -200 VE. Einen Monat später betragen die Kontostände nach dem automatischen Sozialausgleich -97 VE bei Bernd, +291 VE bei Sabine und -(-97 VE + 291 VE) = -194 VE.
Limits
Der automatische Ausgleich ist durchaus als Anreiz gedacht, guten Gewissens ins Minus zu gehen. Da die Summe aller Konten definitionsgemäß immer Null ist, müssen den einzelnen Guthaben auch immer entsprechende Schulden gegenüberstehen.
Andererseits muss sich die Gemeinschaft vor Trittbrettfahrern schützen, die es übertreiben. Durch ein hartes Minus-Limits legt die Gemeinschaft fest, in welchem Umfang sie ein Mitglied zu unterstützen bereit ist.
Bei einem Minuslimit von -100 Verrechnungseinheiten (VE) und einem Zinssatz von 3%/Monat würde das Mitglied jeden Monat bis zu 3 VE von anderen Mitgliedern erhalten. Bei -1000 VE wären das 30 VE im Monat.
Ob alle Mitglieder das gleiche Minuslimit haben sollen, oder ob die Höhe des Kreditrahmens von persönlichen Umständen abhängig gemacht werden soll, ist meines Erachtens Sache der jeweiligen Gemeinschaft.
Nicht zu klein, nicht zu groß
Das Schöneberger Tauschringmodell ist kein Feldversuch für alternative Wirtschafts- und Finanztheorien, die eines Tages das herrschende Wirtschafts- und Finanzsystem ablösen könnten. Das Schöneberger Tauschringmodell beschränkt sich auf die Förderung der Nachbarschaftshilfe. "Nachbarschaftshilfe" ist wörtlich gemeint!
Nachbarschaft
Ein Tauschring nach dem Schöneberger Tauschringmodell beschränkt sich auf ein geographisch scharf begrenztes Gebiet. Die Mitglieder sind tatsächlich Nachbarn, die so nah beieinander wohnen und leben, dass man auch für kleinere Gefälligkeiten die Anfahrtszeit gerne in Kauf nimmt. Die räumliche Nähe stärkt auch den sozialen Zusammenhalt. Die gemeinsame Nachbarschaft trägt zur Identifikation mit dem Ort bei. Und dank der kurzen Wege sehen sich die Mitglieder häufiger.
Gemeinschaft
Eine weitere Selbstbeschränkung gibt es bei der Mitgliederzahl. Ein Tauschring nach dem Schöneberger Tauschringmodell sollte nur so viele Mitglieder haben, wie sich im Laufe der üblichen Tausch- und Gemeinschaftsaktivitäten auch persönlich kennenlernen können. 1000 Mitglieder sind sicherlich zu viel. Andererseits sollte der Tauschring nicht zu klein sein, weil sich dann der Aufwand nicht mehr lohnt. 5 Personen können ihre gegenseitige Hilfe auch einfacher organisieren. Die ideale Größe dürfte vermutlich bei 20 bis 100 Mitgliedern liegen.
Der geographische Einzugsbereich und die Kritierien für die Mitgliederauswahl sollten so festgelegt werden, dass der Tauschring diese Größe langfristig gut halten kann. Der Tauschring sollte bei Neuaufnahmen wählerisch sein.
Und er sollte sich auf ein Verfahren einigen, wie er sich von desinteressierten Mitglieder auch wieder trennen kann, vor allem wenn diese ihre offenen Verpflichtungen nicht ausgleichen wollen. Auch hier ist zu unterscheiden zwischen den wenigen Schmarotzern, die andere Mitglieder vorsätzlich abzocken und den vielen gutwilligen Menschen, die einfach nur eine kleine Hilfestellung brauchen.
Computer und Internet
Die bisherigen Tauschringmodelle stammen noch aus Zeiten, als die Buchhaltung von Hand erledigt werden musste. Kontostände zu berechnen und Kontoauszüge zu verschicken erforderte viel Handarbeit. Auch Begriffe wie "Tauschzeitung" oder "Tauschbeleg" stammen aus Zeiten, als Tauschanzeigen nur über gedruckte Zeitungen kostengünstig verbreitet werden konnten.
Obwohl es schon seit längerem computergestützte Buchungssysteme gibt, wurde das Tauschringmodell an sich noch nicht an die neuen Möglichkeiten angepasst. Regelmäßige statistische Auswertungen, wie sie für eine wirkungsvolle Selbstregulierung nötig sind, sind erst heute technisch machbar.
Da sich das "Schöneberger Tauschringmodell" gut automatisieren lässt, müsste sich der alltägliche Verwaltungsaufwand mit einem geeigneten Buchungssystem für viele Tauschringe drastisch reduzieren lassen.
Zu den offenen Fragen gehört noch, in welchem Umfang das Internet genutzt werden soll. Die Erfahrung mit Online-Buchungssystemen wie Tauschen ohne Geld zeigt, dass es der Zentrale Verwaltungsarbeit und den Mitgliedern Wartezeit erspart.
Persönlicher Kontakt
Das "Schöneberger Tauschringmodell" soll Tauschringe von unnötigem Verwaltungskram und Verteilungskämpfen entlasten, damit sie sich mehr um das wirklich Wichtige kümmern können - eine nachhaltige Gemeinschaft aufzubauen und den persönlichen Kontakt zwischen den Mitgliedern zu fördern.
Hinweis zur Bezeichnung: Das Schöneberger Tauschringmodell ist nach dem Berliner Stadtteil Schöneberg benannt, wo das Modell von Harald Friz seit 2010 entwickelt und bei der TauschOase Schöneberg in einer frühen Vorstufe ansatzweise umgesetzt wurde.
Nachtrag (Nov. 2012): Die Praxis in Schöneberg hat gezeigt, dass das Ehrenamtprinzip durchaus funktioniert. Solange sich genug Engagierte finden, kann ein Tauschring erfolgreich über Ehrenamt betrieben werden. Es hat sich aber auch gezeigt, dass viele Mitglieder das Prinzip nie wirklich akzeptiert haben. Ihnen scheint etwas zu fehlen. Diese Beobachtung veranlasste mich zur Entwicklung des schenkökonomischen Modells "Sozialer Tauschring".